Levana – Erinnerung und Mahnung zugleich

aus: Heimatjahrbuch des Kreises Ahrweiler 1988
aus: Zeitschrift für Heilpädagogik 39. Jahrgang, Heft 8 August 1988, S. 525 – 540
Levana – Erinnerung und Mahnung zugleich
Sonderschule Bad Neuenahr-Ahrweiler erhielt den Namen »Levana-Schule«

Gerd Jung

Auf Empfehlung der Lehrer- und Elternschaft, auf Beschluss des Kreistages vom 13. Juni 1986 und mit Genehmigung der Schulbehörde vom 1. Juli 1986 trägt die Schule für Geistigbehinderte (Sonderschule) in Bad Neuenahr-Ahrweiler seit dem 1. August 1986 den Namen »Levana-Schule«.

Zu der reinen Bezeichnung der Sonderschulform bzw. der Schulart, also hier Schule für Geistigbehinderte als eine Form der Sonderschule, kommt nun der Name »Levana« hinzu, der für eine gewisse Erziehungshaltung, ja mehr für ein bestimmtes Menschenbild steht.

»Levana«

Mit dem Namen »Levana« verbinden sich drei historische Ereignisse, die für die Wahl des Schulnamens von Bedeutung waren:

Zunächst ist »Levana« der Name der römischen Schutzgöttin der Kinder; die Bedeutung des lateinischen Wortes »levare« meint: erheben, aufheben, aufnehmen, annehmen.

Ferner ist »Levana oder Erziehlehre« der Titel einer ersten, damals weit verbreiteten pädagogischen Schrift, von Jean Paul Friedrich Richter 1806 verfasst, ein Werk, das wohl erstmals den Gedanken einer »heilenden Erziehung« vertritt. Schon Jean Paul erkannte die erzieherische Bedeutung der frühen Kindheit: » . . . aber mit dem Erziehen säen wir auf einen reinen weichen Boden entweder Gift- oder Honigkelche; und wie die Götter zu den ersten Menschen, so steigen wir (physisch und geistig den Kindern Riesen) zu den Kleinen herab und ziehen sie groß oder – klein« (1806, 533).

Und an anderer Stelle: »Die elterliche Hand kann den aufkeimenden Kern, nicht aber den aufblühenden Baum bedecken und beschatten. Alle ersten Fehler sind folglich die größten;

und die geistigen Krankheiten werden, ungleich den Pocken, desto gefährlicher, je jünger man sie bekommt. Jeder neue Erzieher wirkt weniger ein als der vorige, bis zuletzt, wenn man das ganze Leben für eine Erziehanstalt nimmt, ein Weltumsegler von allen Völkern zusammengenommen nicht so viel Bildung bekommt als von seiner Amme« (1806, 531).

Jean Paul versteht den Begriff »Levana« im Bild der Pflanzenwelt als ein Aufziehen und Wachsen des kleinen Kindes zum großen Erwachsenen. Hier werden die ursprünglichen bildhaften Bedeutungen des »Kindergartens« und des »Erwachsenen« deutlich. Im Kindergarten können die Kinder gleichsam wie kleine zarte Pflänzchen heranwachsen, der bereits Erwachsene stellt sich als eine durch Bildung und Erziehung gereifte Persönlichkeit dar.

Stellvertretend für die vielen praktischen Erziehungshinweise seiner über 350seitigen Erziehlehre seien hier nur kurz Jean Pauls Aussagen skizziert, die er unter der Überschrift »Gebieten, Verbieten« macht.

Grundsätzlich hält Jean Paul in Abhebung von Rousseau das Gebot und Verbot für erzieherisch notwendig. Interessant sind hier einige praktische Hinweise, die auch heute, nach 150 Jahren, nach vielen Schulreformen und Erziehungstheorien, von Bedeutung sind:

»Habt keine Freude am Ge- und Verbieten, sondern am kindlichen Freihandeln. Zu häufiges Befehlen ist mehr auf die elterlichen Vorteile als auf die kindlichen bedacht« (1806, 619). »Verbietet seltener durch Tat als durch Worte; reißet dem Kinde das Messer nicht weg, sondern lasset es selber auf Worte es weglegen; im ersten Fall folgt es dem Druck fremder Kraft, im zweiten dem Zuge eigener« (620).

»Verbietet mit leiser Stimme, damit eine ganze Stufenleiter der Verstärkung freistehe, – und nur einmal« (623),

Dass Erziehung, gerade die „heilende Erziehung“ oder „Gegenerziehung«, wie Jean Paul sie nennt (1806, 531), mehr als nur Gebieten und Verbieten meint, wird da deutlich, wo er sagt: »aber selber das Kamel trabt nicht vor der Peitsche, sondern nur hinter der Flöte schneller« (625).

Das dritte historische Ereignis mit Bedeutung für die Wahl des Schulnamens stellt die in Baden bei Wien 1856 gegründete »Levana-Heilpflege- und Erziehanstalt für geistes- und körperschwache Kinder« dar. Sie ist eine der ersten Bildungs- und Erziehungseinrichtungen dieser Art. Ihre Gründer und Anstaltsleiter sind die Schriftstellerin Jeanne Marie von Gayette, eine Verehrerin Jean Pauls, und die Pädagogen Jan Daniel Georgens und Heinrich Deinhardt.

Die Anfänge und der Werdegang der Levana-Heil- und Erziehanstalt waren nicht einfach, im Folgenden beziehe ich mich auf eine Dissertation von SELBMANN über Jan Daniel Georgens (SELBMANN 1982),

Georgens, der eigentliche Anstaltsleiter siedelte zuerst nach Baden bei Wien über und mietete dort die »Braunsche Villa«. Da zunächst die behinderten Kinder ausblieben, begannen Georgens und seine Mitarbeiter, die Gärtnerkinder der Villa zu erziehen und für die Kinder der Badegäste Beschäftigungen, Spiele und gymnastische Übungen zu organisieren. Der anfangs rege Zuspruch ließ sofort nach, als bekannt wurde, dass das Institut auch eine Heilanstalt und zwar für Geistigbehinderte sein sollte.

Der erste „Heilpflegling«, ein elfjähriges Mädchen aus adeligem Haus, trat im Juni 1856 in die Anstalt ein. Ende des Jahres 1856 kündigte Georgens den offiziellen Beginn der Anstaltsarbeit für das Frühjahr 1857 an. Die Werbung in den Zeitungen usw. war von einem solchen Erfolg, dass ein Wechsel der Räumlichkeiten notwendig wurde.

Im März 1857 siedelten Georgens und die Mitglieder des Instituts in das in Liesing bei Wien gemietete Schloss über. Trotz wahrscheinlich hoher Mietkosten – das Institut verfügte nicht nur über das Gebäude, sondern konnte auch einen Park mit Badeanstalt und Schwimmschule, einen großen Schulgarten und einen Ruderteich für Erziehung, Unterricht und Therapie nutzen – war die »Levana« kein eigentlich geschäftsmäßiges Heil- und Erziehungsinstitut, sondern als Privatanstalt ohne irgendwelche staatliche oder sonstige Unterstützung auf Kredit von privater Seite angewiesen. Ungeachtet aller finanziellen Engpässe nahm die »Levana« nicht nur Kinder reicher Eltern auf, sondern bot auch Söhnen und Töchtern mittelloser Eltern eine Zufluchtsstätte.

Nicht zuletzt als Folge des Ablebens zweier großer Förderer der Levana-Anstalt begann bereits im Herbst 1859, also etwa drei Jahre nach der Gründung, ihr Niedergang. Schloß Liesing mußte aufgegeben werden, eine Fortsetzung der Institutsarbeit war zunächst aus finanziellen Gründen nicht möglich.

1860 mietete Georgens, erneut finanziell unterstützt, eine Villa, diesmal auf dem Kahlenberg bei Wien. Nachdem Bemühungen staatlicher Unterstützung durch Übernahme sog. „Staats-Pfleglinge« scheiterten, die Zahl der Zöglinge weiter abnahm und sich Georgens wichtigster Mitarbeiter Heinrich Deinhardt im Frühjahr 1861 von ihm trennte, war das endgültige Ende der »Levana«-Anstalt mit dem Jahr 1865 gekommen.

Der Hauptgrund für die Anstaltsschließung dürfte sich daraus ergeben haben, daß die »Levana« als Privatanstalt ohne eine dauernde finanzielle Unterstützung von privater Seite nicht existieren konnte, der Bewusstseinsstand hinsichtlich der Notwendigkeit heilpädagogischer Institute und deren Förderung zu jener Zeit aber noch nicht erreicht war. Hinzu kam, dass durch die wenigen eingehenden Geldmittel keine Rücklagen gebildet werden konnten. Weitere Schwierigkeiten waren mit der Gleichzeitigkeit zu vieler Projekte und der Fluktuation des Personals gegeben.

Über ihre Erfahrungen in der Erziehungs- und Bildungsarbeit mit den geistigbehinderten Kindern in der Levana-Anstalt berichteten Georgens und Deinhardt in Vorlesungen, die in dem zweibändigen Werk »Die Heilpädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten« 1861/1863 und in dem »Medizinisch-pädagogischen Jahrbuch der Levana für das Jahr 1858« zur Darstellung kommen.

Hier sei angemerkt, dass zu dieser Zeit Begriffe wie »Idiotie und Idioten« medizinische Fachausdrücke zur Benennung des Personenkreises geistig behinderter Menschen darstellten. Wie schwer man sich in dieser Zeit mit den neuen Begrifflichkeiten tat, zeigt sich auch an der Berufsbezeichnung der entsprechenden Lehrkräfte, die im allgemeinen als »Schwachsinnigenbildner« bezeichnet wurden (SELBMANN 1982, 42).

Das Erziehungs- und Bildungskonzept

Im folgenden soll nun das der Levana-Anstalt zugrundeliegende Erziehungs- und Bildungskonzept kurz zur Darstellung kommen, Vergleiche mit heute geltenden Grundsätzen des Unterrichts mit geistigbehinderten Schülern bieten sich an. Grundsätzlich, und das ist für die damalige Zeit nahezu revolutionär, wird die Bildungsfähigkeit als unzweifelhaft jedem Geistigbehinderten zugesprochen. Erstmals erhält die pädagogische Tätigkeit gegenüber den medizinischen Anwendungen den Vorrang.

Die Erziehungsziele berücksichtigen sowohl die behinderte Persönlichkeit mit seiner Lernfreude und Lernbereitschaft einerseits, als auch Ansprüche der Gesellschaft, wie möglichst große Selbständigkeit und Übernahme verwertbarer Arbeit andererseits.

Bis auf den heutigen Tag bewegen sich schulische Bemühungen um den geistig behinderten Menschen zwischen diesen beiden Polen und versuchen, sowohl individuell bedürfnisorientierte Ziele als auch gesellschaftlich bedarfsorientierte Inhalte zu berücksichtigen und zu verbinden.

Die moderne Leitidee der für unsere Sonderschulform derzeit gültigen Richtlinien spiegelt diese Ambivalenz wider in der Formulierung: Selbstverwirklichung in sozialer Integration.


Zurück zur Levana-Anstalt: Um gezielt und systematisch die Kinder fördern zu können, wurde für jedes einzelne Kind ein spezieller Erziehungs- und Heilplan aufgestellt. Georgens und seine Mitautoren erarbeiteten methodisch-didaktische Hinweise, die auch heute noch Gültigkeit für den Unterricht an der Schule für Geistigbehinderte haben.

So wird die Bedeutung des sogenannten Gelegenheitsunterrichts anerkannt und die Forderung gestellt, dass das behinderte Kind „immer und überall die konkretgegenständliche Vorstellung verlangt“ (nach SELBMANN 1983, 299). Auf weitere, auch heute noch gültige Grundsätze des Unterrichts in einer Schule für Geistigbehinderte wird vor mehr als 120 Jahren hingewiesen:

»Der Unterricht der Idioten muss das ihrem Interesse Zunächst liegende und ihrem Verständnis am meisten Zugängliche herausheben und dabei verweilen . . . Wie bei den Beschäftigungen und Arbeitsübungen darf selbstverständlich auch bei dem Unterricht das Abstraktionsvermögen nicht zu frühzeitig in Anspruch genommen werden, und der Grundsatz der Anschaulichkeit des Unterrichts erlaubt bei den Blödlingen Veranschaulichungsmittel, welche bei den gesunden Kindern unzulässig sind« (nach SELBMANN 1982, 94).

Als sogenannte praktische Bildungsmittel werden das Spiel, die Gymnastik, die Beschäftigungen und Arbeiten und die Wanderung, also häufige Unterrichtsgänge, erwähnt. Auf Musik und Gesang wird viel Wert gelegt, Formen- und Gartenarbeiten werden differenziert dargestellt.

Moderne Begriffe der Geistigbehindertenpädagogik, wie »anschaulich-vollziehendes« oder »handlungsbezogenes Lernen«; Schlagworte, wie »Lernen vor Ort«, »Leben lernen« und »Stadt als Lehrplan«, also z. B. das vorhaben-orientierte Aufsuchen des Postamts, des Krankenhauses oder des Supermarktes und das möglichst selbständige Bewältigen dieser Lebenssituationen, all diese aktuellen Gedanken können ohne weiteres aus der heilpädagogischen Konzeption von Georgens, Deinhardt und Gayette konsequent weiterentwickelt werden.

Integration, das große Thema von heute, war für die Autoren schon vor 100 Jahren kein Fremdwort.

Während sie einerseits Möglichkeiten und Notwendigkeiten der besonderen Förderung geistigbehinderter Menschen anerkennen, stellen sie andererseits aber fest, dass der Erziehungserfolg wesentlich davon abhängt, ob ein geregeltes Miteinander behinderter und nichtbehinderter Kinder gewährleistet werden kann. Hierbei versprechen sie sich durch das Vorbild nichtbehinderter Kinder einen größeren Lernerfolg: »bei den Wanderungen (gemeint sind hier vorbereitete Unterrichtsgänge) will die Aufmerksamkeit auf vorkommende Erscheinungen wie die Lust an der Bewegung bei den Idioten angeregt und bestimmt sein, wozu das Beispiel der Gesunden weit wirksamer ist als die Aufforderungen des begleitenden Erziehers« (nach SELBMANN 1982, 113).

Den Begriff »Levana«, verstanden als Annahme des behinderten Menschen, sehen die Gründer der Levana-Anstalt in der Anerkenntnis der grundsätzlichen Bildungsfähigkeit Geistigbehinderter und in dem stetigen Bemühen verwirklicht, sie trotz notwendiger besonderer Erziehungsmittel in die Gesellschaft zu integrieren und ihnen möglichst viel Rüstzeug mitzugeben, »dass die betreffenden Individuen ihren Familien und der Gesellschaft nicht ‚zur Last fallen< oder auch ‚brauchbare« Menschen werden . . .« (nach SELBMANN 1983, 292).

Das Levana-Prinzip

Die Bedeutung des Namens »Levana« für die römische Schutzgöttin der Kinder wird dann deutlich, wenn man sich die feierliche Handlung des »levare«, den Ritus des Aufnehmens durch den damals übermächtigen Familienvater, den Pater Familias, vergegenwärtigt. Vor 2 000 Jahren konnte er allein durch das Aufheben des vor ihm liegenden Säuglings bzw. durch seine Weigerung über Leben und Tod seiner neugeborenen Kinder entscheiden. Die Auf- und Annahme des Kindes im wörtlichen Sinne wurde vollzogen und ausgesprochen. Das neue Testament hat ein sehr altes Wort dieser Rechtssprache überliefert: »Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe!« Blieb der Vater aber stumm und verfügte die Aussetzung, dann hatten die Amme und die Mutter vergebens gebetet (nach Möckel 1984). Kinder mit Missbildungen oder Behinderungen hatten hier wohl nur geringe Lebenschancen.

Der Begriff >Levana< steht hier also für die grundsätzliche bedingungslose Annahme des Mitmenschen, unabhängig von Merkmalen und Leistungsvermögen.

Das Levana-Prinzip macht damit deutlich, dass es nicht nur kein »lebensunwertes Leben«, sondern auch kein lebenswerteres bzw. lebensunwerteres Menschsein gibt bzw. geben darf.

An dieser Stelle tun wir uns oft schwer mit unserer inneren Überzeugung. Da werden solche Sätze vom gleichen Lebenswert des Menschseins schnell zu bloßen Lippenbekenntnissen, gerade bei den schwer geistig behinderten Menschen, bei Menschen, die teils über Jahrzehnte nur mit kurzen Unterbrechungen immer gleichen Stereotypien wie Schaukel- und Kreiselbewegungen nachgehen, Menschen, die häufiger sich selbst in für uns unmotivierten Autoaggressionen verletzen, Menschen, die sich zeitlebens u. U. nicht in geeigneter Form mitteilen können.

Der Lebenswert eines Menschen wird dabei m. E. häufig zu schnell mit dem gesellschaftlichen Nutzwert, mit den eigen gelebten Vorstellungen eines wertvollen ausgefüllten Lebens gleichgesetzt. Dazu gehört Schul- und Berufsausbildung, als Erwachsener mit oder ohne Familie die selbständige Haushaltsführung usw.

Wenn dann in unserer hochtechnisierten Welt jemand zeitlebens auf Hilfe angewiesen ist, und das sind fast alle unsere Schüler, also wenn jemand alles andere als der Gesellschaft und seiner Reproduktion nützlich ist, dann scheint es, als wenn der grundsätzliche Lebenswert dieses Menschseins vorschnell in Frage gestellt wird, einfach weil Lebenswert und Nützlichkeitswert unzulässigerweise gleichgesetzt werden. Die Tatsache, dass diese Gedanken um das Problem des lebenswerteren bzw. lebensunwerteren Lebens tatsächlich in vielen Köpfen auftauchen, lässt sich z.B. in der Rechtsprechung nachweisen. Die eugenische Indikation beim Schwangerschaftsabbruch nach § 218 StGB erlaubt einer werdenden Mutter bis zur 22. Woche (also bis in den 6. Schwangerschaftsmonat hinein) die Abtreibung ihres voraussichtlich geschädigten Kindes, während das für die werdende Mutter eines gesunden Kindes nach dem Gesetz verboten ist.

Was die Eltern und die Familie mit einem geistigbehinderten Kind betrifft, wissen wir alle um deren existentielle Probleme oder können sie mehr oder minder bloß erahnen. In diesem Zusammenhang möchte ich hier nur stellvertretend für vieles mehr hinweisen auf die vielen Enttäuschungen und Rückschläge mit dem behinderten Kind, auf Vorbehalte und Vorurteile der Umwelt gegenüber den Eltern und dem Kind und die Selbstzweifel, Ängste und die Gefühle der Hilflosigkeit der Eltern, häufig auch besonders der alleingelassenen Mütter.

Hier ist nach wie vor noch viel Aufklärungsarbeit, gerade in dem sozialen Umfeld, z.B. in der Verwandtschaft und Nachbarschaft vonnöten, um etwa Schuldgefühle der Eltern einerseits und ungerechtfertigte Schuldzuweisungen von Zeitgenossen andererseits, seien sie ausgesprochen oder nur gedacht, abzubauen. Hier gilt der Satz: »Niemand kann es sich selbst zuschreiben, dass er als Elternteil nicht betroffen ist!« Auch heute noch ist das Problem um den Lebenswert des Menschseins gerade Geistigbehinderter letztendlich nicht gelöst, auch heute hat das Levana-Prinzip eine ganz aktuelle und konkrete Bedeutung in Sonderheit mit Blick auf die moderne Gentechnologie.

Ich möchte hier Prof. Dr. Meyer, Lehrstuhl Geistigbehindertenpädagogik Uni Dortmund, zitieren: »Die Bewertung geistig behinderter Menschen hat sich im Verlaufe der letzten Jahrhunderte grundsätzlich nicht geändert, ebenfalls nicht die daraus gezogenen Konsequenzen. Fiel die Entscheidung hinsichtlich des Lebenswertes und somit Lebensrechtes eines behinderten Menschen im alten Rom gleich nach der Geburt, im nationalsozialistischen Deutschland praktisch in allen Altersbereichen, kann diese in der Gegenwart zu einem noch früheren Zeitpunkt erfolgen« (MEYER 1984, 450). Eine sehr harte Aussage, die aber nachdenklich macht. Zweifellos ist in den letzten Jahrzehnten viel zugunsten geistigbehinderter Menschen erreicht worden. Angestoßen durch Initiativen betroffener Eltern wurden mehr und mehr gute Einrichtungen geschaffen, die modernen Bemühungen zur Normalisierung der Lebensbedingungen geistigbehinderter Menschen etwa in Werk- und Wohnstätten sind sicherlich zu begrüßen. Auch ist das Problem des lebensunwerteren Lebens weniger ein deutsches als ein allgemein menschliches.

Eine allgemeingültige Antwort kann es hier sicherlich nicht geben. Aber dies scheint festzustehen: Je mehr der Nichtbetroffene seine Sicht der Dinge, sein Weltbild dem geistig behinderten Menschen überstülpt, je weniger er ihm durch handelnden Umgang begegnet und ihn tatsächlich kennenlernt, umso weniger wird er ihn letztlich verstehen können. Gelingt es ihm aber, seine eigenen Lebensideale zurückzustellen und vorbehaltlos dem geistig behinderten Menschen zu begegnen, sich auf ihn einzulassen, umso mehr wird er in der Lage sein, unerwartete, ja in der Intensität häufig sogar unbekannte Werte beim Nächsten zu entdecken, etwa Gefühle der Wärme, der Freude, der Zuwendung und der Natürlichkeit.

Häufig berichten Besucher unserer Schule hernach, wie freudig erstaunt sie über unsere Schüler waren, wie sie vorbehaltlos von den behinderten Kindern und Jugendlichen angesprochen und begrüßt, wie sie zum Mittun von ihnen aufgefordert und ermuntert wurden. Wer die Begegnung mit dem behinderten Menschen sucht, hat eben die Gelegenheit, den unbezweifelbaren Lebenswert dieses Menschseins zu erfahren. Die Begegnung und der Kontakt zwischen Behinderten und Nichtbehinderten ist demzufolge Voraussetzung zur Verwirklichung des Levana – Prinzips, also der grundsätzlich bedingungslosen Annahme des Mitmenschen.

»Levana« ist also nicht nur ein Name, der an wertvolle erste Bemühungen um Erziehung und Bildung des geistig behinderten Menschen erinnert, sondern auch zugleich ein mahnender Hinweis auf noch ungelöste Probleme um die grundsätzlich bedingungslose Annahme behinderter Menschen in der Gegenwart und Zukunft. Wenn »Levana« erst durch Begegnung und Kontakte ermöglicht wird, dann darf das Namensschild draußen an der Eingangstür der »Levana-Schule« im übertragenen Sinne jedem Besucher als ein herzliches Willkommen gelten.

»Levana« – ein Name, der uns alle verpflichtet!

Literatur
Jean Paul, Levana oder Erziehlehre, in Jean Paul: Werke 5. Bd.
München 1984. S. 515-874.
Meyer, H. Stellungnahme zu A, Möckels Rezension der „Geschichte
der Sonderpäd… in ZfH 1984 Heft 6, S. 450 – 451.
Möckel, A. Historische u. gesellschaftl. Aspekte der pädagog. Förderg.
Geistigbehinderter i. Geist. Behg. (Ztschrift) 1/84 S. 3 -19.
Selbmann, F., ? Jan Daniel Georgens – Leben und Werk – Diss. Gießen 1982.
Selbmann, F., – Erste Ansätze einer Pädagogik für Geistigbehinderte.
Die Vorstellungen v. J, D. Georgens, in: Geistige Behinderung
(Ztschrift) 4/83, S. 292 – 302.

Nachtrag zum LEVANA-Prinzip im Jahre 1994

(aus Festschrift: 20 Jahre Schule für Geistigbehinderte 1974 bis 1994 Levana-Schule Bad Neuenahr-Ahrweiler, S. 38 – 41)

Gerd Jung

Seit der Namensgebung für unsere Schule vor mehr als 7 Jahren haben in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung in der Fachdisziplin der Geistigbehindertenpädagogik und ihrem Umfeld gerade in der Bundesrepublik Deutschland Entwicklung stattgefunden, die nicht ohne Einfluss auf den LEVANA-Gedanken geblieben sind.

Aus der Vielzahl von Veröffentlichungen in der Fachliteratur und der Tagespresse seien hier zwei Bereiche genannt, die in einem engeren Zusammenhang mit dem Namen unserer Schule stehen.

Ein verändertes Menschenbild in der Behindertenpädagogik

In der Vergangenheit, gerade in der Konstituierung der Sonderpädagogik, speziell der Geistigbehindertenpädagogik wurde in einem distanzierenden Menschenbild die Besonderheit des Menschen mit geistiger Behinderung herausgestellt. Im Vordergrund stand und steht zuweilen noch der Gedanke der Differenzierung, z.B. in welchem Bereich und Ausmaß weichen Behinderte von der durch nichtbehinderte Menschen erhobenen statistischen Norm ab. Hiermit war der Gedanke der Ausgrenzung und Isolierung verbunden.

Neuere Entwicklungen sehen aus der ökologischen Perspektive den Menschen mit Behinderung in unserer aller Lebenswelt. Dieses integrierte Menschenbild hebt den Menschen und seine Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen hervor. Aus dem >Geistigbehinderten< wird ein >Mensch mit geistiger Behinderung< d.h. die Behinderung ist lediglich ein Merkmal. Während der behinderte Mensch, besser der Mensch mit Behinderung aus der Sicht eines integrierten Menschenbildes also in der Menschheit aufgehoben ist und in der Gesellschaft integriert verbleibt, steht aus der Sicht eines distanzierenden Menschenbildes am Rande bzw. außerhalb der Gesellschaft ? im Extremen steht er, wie die jüngste Geschichte zeigt, sogar außerhalb der Menschheit (Euthanasie).

Pädagogische Beschreibungen orientieren sich weniger an Defiziten, der individuelle Förderbedarf eines Kindes steht im Vordergrund.

Daneben werden zunehmend auch positive Eigenschaften der Menschen mit geistiger Behinderung als sog. Herzensqualitäten, wie Aufrichtigkeit, Vertrauen, Freude an den einfachen Dingen des Lebens, und der positive Einfluss hervorgehoben, den sie auf Familienmitglieder und Freunde haben können? ein Fortschritt zu der ausschließlich negativen Sicht der Vergangenheit. Eine weitere positive Tendenz ist die Anerkennung des Menschen mit Behinderung als Dialogpartner. So kommen in Selbsthilfegruppen Menschen mit geistiger Behinderung selbst zu Wort, ja mancherorts haben sie Sitz und Stimme in Vorständen oder Mitarbeitervertretungen. Auch bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung findet Förderung und Unterricht nicht mehr als funktionalistische Behandlung (z.B. basale Stimulation) statt, sondern versucht unter partnerschaftlichem Gesichtspunkt eine Ich-Du-Beziehung aufzubauen. Störendes Verhalten gilt es nicht einfach durch verhaltenstherapeutische Maßnahmen aufzubauen, sondern im Sinne der subjektiven Sinnfindung des jeweiligen Menschen erst zu verstehen.

Weitere aktuelle Entwicklung, wie von der Spezialisierung zur Ganzheitlichkeit, von der Aussonderung zur Integration, seien hier nur erwähnt.

Ein verändertes Menschbild in der Gesellschaft

Die aufgezeigten Tendenzen pädagogischer Theorie und Praxis könnten zu einem gewissen Optimismus verleiten. Dieser ist derzeit aber kaum angebracht. Pädagogik vollzieht ich nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum. Die hier aufzuzeigenden aktuellen Tendenzen in der Gesellschaft laufen den positiven Entwicklungen in der Pädagogik entgegen.

– Ausschluss von Bildungsangeboten: Das Recht auf Bildung ist in Gefahr

In einigen Bundesländern wird erneut versucht, die Schulpflicht für Kinder mit schwerer geistiger Behinderung durch Beschreibungen wie >nicht gemeinschaftsfähig<, >zu hoher Pflege- und Betreuungsbedarf< zu umgehen. Noch gilt für unsere Schule, dass grundsätzlich jeder Geistigbehinderte unabhängig von Art und Schwere seiner Behinderung in pädagogische Fördermaßnahmen einzubeziehen ist.

– Die neue Behindertenfeindlichkeit: Die gesellschaftliche Integration ist in Gefahr

Trotz starker Anstrengungen besonders im Bildungsbereich zu mehr Toleranz und Integrationsbemühungen gegenüber Randgruppen der Gesellschaft ist eine aktuelle Tendenz zur Aussonderung von Menschen, die anders sind, ob Ausländer oder Behinderung, nicht zu übersehen. Ein Beleg unter vielen ist das skandalöse Flensburger Urteil, das wegen des gemeinsamen Essens mit einer Gruppe schwerstbehinderter Menschen in einem Hotel einem Ehepaar einen Minderungsanspruch in Höhe von 350 DM wegen des >ekelerregenden Anblicks< zuerkennt. Klagen und Einsprüche der Nachbarschaft vor dem Bau von Wohnungen für Behinderte in Wohngebieten sind nicht selten.

Der sich abzeichnende Betreuungsnotstand macht klar, dass trotz hoher Arbeitslosigkeit sich weniger als früher, junge Menschen für Sozialberufe entscheiden.

– Gewalt gegen Behinderte: Die körperliche Unversehrtheit ist in Gefahr

Zunehmend sind auch wehrlose Menschen mit Behinderung Opfer rassistischer Gewaltverbrecher.
Angst machen vor allem Mord- und Bombendrohungen gegen Schulen für behinderte Kinder und Belästigungen, Beschimpfungen, Überfälle und Misshandlungen in der Öffentlichkeit.

– Lebensunwertdiskussionen: Das Leben ist in Gefahr

Durch Fortschritte und Ausweitung der Pränataldiagnostik wird der gesellschaftliche Druck auf Schwangere immer größer, sich durch eine Fruchtwasseruntersuchung über den Gesundheitszustand ihres ungeborenen Kindes zu informieren. Werden Unregelmäßigkeiten festgestellt, ist der Schwangerschaftsabbruch die Regel und auch im neuen § 218 durch eine Sonderfrist von 22 Wochen bei embryopathischer Indikation, anstatt der sonst geltenden 12 Wochen, erlaubt.

Unabhängig von der nur von der schwangeren Frau selbst zu treffenden Gewissensentscheidung verschärft sich der auf ihr lastende Druck, den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechend alle technischen Möglichkeiten zur Verhinderung der Geburt eines behinderten Kindes in Anspruch zu nehmen. Die Geburt eines behinderten Kindes droht damit ausschließlich als ein individuelles Versäumnis bewertet zu werden mit Folgerungen hinsichtlich Verantwortung und Solidarität.

Dabei wird häufig auch übersehen, dass Behinderungen während oder nach der Geburt im Säuglings- oder Kleinkinderalter entstehen können.

Erschreckend ist, dass zunehmend öffentlich über den Lebenswert schon geborener Menschen mit Behinderung diskutiert wird.

So fordert ein australischer Philosoph in einer rationalen Ethik, die in einer bekannten deutschen Taschenbuchreihe Verbreitung fand, den Eltern das Recht auf Tötung ihres behinderten Kindes auszusprechen. Die Tötung eines Säuglings mit Down-Syndrom (ehem. Mongolismus) sei nicht gleichbedeutend mit der Tötung normaler menschlicher Wesen, da hier nicht von einer sich entwickelnden Persönlichkeit auszugehen sei.

Die Tötung wird konkret durch Entzug von Nahrung oder lebenswichtiger Medikamente beschrieben.

Liebe Leser,

bleiben Sie mit den Eltern und Freunden unserer Schülerinnen und Schüler wachsam, nutzen Sie die Möglichkeiten der Begegnungen mit Menschen mit geistiger Behinderung, nur so haben Sie die Chance, den unbestreitbaren Wert dieses Mitmenschen zu erfahren!

cropped-Emblem.jpg

Das Emblem unserer Schule bezieht sich auf den römischen Levana-Ritus. Es stellt die Hand eines Erwachsenen dar, die ein neugeborenes Kind, sei es behindert oder nicht, fest und sicher hält. Unser Emblem will uns also alle auffordern, jedem Menschen, unabhängig von seinen individuellen Eigenschaften und Merkmalen, sein grundsätzliches Recht auf Leben und mitmenschliche Annahme und seinen Anspruch auf Bildung und Teilhabe am öffentlichen Leben sicherzustellen.

Das LEVANA-Prinzip

bleibt eine aktuelle Verpflichtung!

Grundsatzaussage 1993:

Wir haben etwas zu sagen!

Ihr müsst uns zuhören, wenn wir uns mitteilen.

(Committee Self Advocacy Utrecht 1993)